Die Bewertung des Menschen

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Vielleicht kennt ihr ja die Worte aus dem wunderbaren Buch des kleinen Prinzen von Antoine de Saint-Exupéry: “Die großen Leute haben eine Vorliebe für Zahlen. Wenn ihr ihnen von einem neuen Freund erzählt, befragen sie euch nie über das Wesentliche. Sie fragen euch nie: Wie ist der Klang seiner Stimme? Welche Spiele liebt er am meisten? Sammelt er Schmetterlinge? Sie fragen euch: Wie alt ist er? Wie viele Brüder hat er? Wie viel wiegt er? Wie viel verdient sein Vater? Dann erst glauben sie, ihn zu kennen.” Diese für mich sehr tief gehenden Zeilen habe ich zum ersten Mal als Teenager gelesen und sie begleiten mich noch heute. Früher mochte ich den Gedanken nicht, dass die Erwachsenen immer diese Zahlen lieben. Bedenkt man doch, dass ich in Mathematik immer eine glatte fünf hatte. Zu Zahlen hegte ich während meiner gesamten Schullaufbahn eine emotionale Abneigung, die so oft zu Tränen führte. Ich fühlte mich so schlecht und dumm, obwohl ich immer fleißig gelernt habe. Leider spiegelte sich dieses dadurch geringe Selbstbewusstsein auch in anderen Schulfächern wieder. In meinem Studium zur Kindheitspädagogin begegnete mir dann schon wieder Mathematik, was ich leider nicht abwählen konnte. Zum ersten Seminar betrat ich den Saal und sagte zur Professorin, dass ich große Angst vor diesem Fach habe und erzählte ihr meine schlechten Erlebnisse aus meiner Schulzeit, die mich immer begleitet haben. Sie beruhigte mich und erzählte mir, dass es sich in diesem Fach eigentlich um Philosophie handle. Kurz darauf lernte ich meinen Liebsten kennen. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich leider noch nicht, dass er total begeistert von allem ist, was mit Mathematik zu tun hat. So oft laufen wir durch die Straßen Berlins und er erzählt mir eine Geschichte über irgend eine Zahl. Er hat mich auf eine große, gedankliche Reise mitgenommen. Ich habe verstanden, dass ich mit Zahlen philosophieren kann. Tatsächlich: Mathematik ist die reinste Philosophie und ich kann in Geschichten schwelgen!

Leider erlebe ich auch in meiner beruflichen Laufbahn als Pädagogin nur zu oft, dass Kinder oder deren Familien bewertet werden. Selbst bei und über KollegInnen sehe ich dieses Phänomen. Tief in meinem Herzen widerstrebt mir der Gedanke, dass ich bei einem anderen Menschen auf Fehlersuche gehen soll oder sie mit einer Zahl bewerte. Ich glaube nämlich ganz fest daran, dass in jedem Menschen ein Potential und damit verbundene Leidenschaft verankert und zu finden ist. Was für eine wunderbare Vorstellung ist es doch, dass gerade wir als PädagogInnen auf Schatzsuche gehen und genau diese auch bei den Kindern suchen. Wie frei und unbeschwert könnte sich ein Kind entwickeln, wenn es nicht unter Leistungsdruck und gesellschaftlicher Bewertung stehen würde? Wie frei könnte doch der Geist sein, um kreativ zu denken und in einen regelrechten Flow zu gelangen? Eigentlich ist es doch so einfach, wir müssen den Kindern nur genügend Raum und Zeit geben, damit sie sich mehr mit ihren Themen auseinandersetzen können. Sollte ein Kind selbst noch nicht so richtig wissen, was es eigentlich mag, können wir ihnen die vielfältigsten und besten Möglichkeiten bieten, damit sie sich einfach ausprobieren können. Ganz ohne Zwang!

Im Großen und Ganzen unterstütze ich genau auf die gleiche Art und Weise meine schon erwachsenen KollegInnen. Ich frage sie, welche Hobbys sie haben, was sie vielleicht schon immer mal ausprobieren wollten oder bei welchen Themen oder Tätigkeiten ihre Herzen hängen geblieben sind. Ich frage sie, was davon sie gerne mit den Kindern teilen wollen und helfe dabei, dies so gut wie Möglich an die gegebenen Strukturen anzupassen. Ich bin ganz fest davon überzeugt, dass wir Kinder nur mit der eigenen Begeisterung für etwas, selbst begeistern können. Ich behaupte sogar, dass wir ganz leicht die richtigen Worte finden und die Kinder mit den eigenen strahlenden Augen fesseln können.

Manchmal schaue ich mit in die Bewerbungen potentiell neuer KollegInnen rein und stelle fest, dass sie sich meist auf irgend welche Abschlüsse berufen und deswegen glauben, der/ die perfekte BewerberIn zu sein. Es ist eigentlich, wie bei der Geschichte des kleinen Prinzen. Es wird nach Zahlen geschaut. Aber darüber, was sie wirklich begeistert oder welche Zukunftsvisionen sie für ihre Arbeit haben, bleiben verborgen.

Hier noch einmal mein ganz konkreter Aufruf an die Erwachsenenwelt: Wenn Kinder die Gestalter unserer Zukunft sein dürfen, dann müssen wir ihnen Freiraum geben. Kinder brauchen dafür uns als BegleiterInnen und ImpulsgeberInnen. Kinder brauchen uns für ein stärkendes Rückgrat und nicht als Fehlersucher. Egal, wo ein Kind her kommt, es soll die gleichen Chancen bekommen, wie jedes andere Kind.

Und wir als PädagogInnen? Ich stelle fest, dass immer mehr von uns die Leidenschaft verlieren oder sogar ohne diese in dem Beruf gelandet sind. Die Gründe dafür sind so unterschiedlich, wie die Menschheit es ist. Wenn wir die seit hunderten Jahren gefestigten Denkweisen unserer Gesellschaft verändern wollen, müssen wir Vorbilder sein. Ich glaube ja, dass es ganz einfach ist. Wir müssen doch nur unsere KollegInnen fragen, wodrauf sie so richtig Lust haben und sie mal einfach machen lassen. Natürlich bin ich auch eine große Realistin: Veränderung geschieht selten von heute auf morgen. ABER wir können damit im Kleinen beginnen und damit Leuchttürme setzen.

Eure Marie

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